Wieder begann die Bundesliga mit brutalen Fouls und Verletzungen. Zu oft lassen Schiedsrichter die Täter ungestraft treten.
Fußball-Nationalspieler Paul Breitner und der Bundesgerichtshof sind
sich in einem Punkte einig: Wer Fußball spielt, urteilten die
BGH-Richter 1974 in einem Grundsatzurteil, "muß grundsätzlich
Verletzungen in Kauf nehmen", denn, so ergänzte 1980 der Weltmeister,
"das liegt im Risiko unseres Jobs, das ist normal und unumgänglich".
Daran hielten sich die Bundesliga-Kicker auch, als die Jagd für die
Klopper wieder freigegeben, die Schonzeit für Spielmacher und
Sturmspitzen vorüber war: An den ersten drei Spieltagen begann die
zweite Bundesliga mit 68 gelben Karten und drei Platzverweisen, die
erste Liga mit einer roten und 51 gelben Karten.
Zwei Mannheimer Kicker erlebten das Spielende im Krankenhaus, ein
Kölner Fortune brach sich den Kiefer. Letzte Woche knackte einem
Karlsruher das Schienbein, Kaiserslautern verlor schon seinen zweiten
Torwart Armin Reichel.
Die gräßlichste Verletzung erlitt der Bielefelder Linksaußen Erwin
Lienen: Der Bremer Norbert Siegmann schlitzte ihm den Oberschenkel 25
Zentimeter weit auf.
Gegen die "schlimmen Auswüchse" schrieb der frühere
Bundesliga-Torwart Hans Jäcker, inzwischen Präsident bei Eintracht
Braunschweig, den Lizenzspielern einen Brandbrief. "Wenn wir die brutale
Entwicklung der letzten Wochen nicht sofort stoppen", schwante Jäcker,
werden die Zuschauer die Spieler als "primitive Treter abschätzen und in
der Nähe der altrömischen Gladiatoren ansiedeln."
Den Schiedsrichtern fällt die Schlüsselrolle dabei zu, offene
Brutalität zu unterbinden. Die meisten Verletzungen können sie freilich
nicht verhindern. Denn der Fußball führt so zwangsläufig zu einer Anzahl
von Verletzungen, wie die Marktwirtschaft gelegentlich zu Pleiten.
Blessuren treten besonders zu Anfang einer Saison auf, wenn Spieler um
Stammplätze kämpfen.
Unfaires Spiel häuft sich, wie der Tübinger Sportpsychologe Helmut
Gabler in einer Untersuchung ("Aggressive Handlungen im Sport")
herausfand, am Ende eines Spieles, sobald Kraft und Konzentration
nachlassen, aber auch am Ende einer Saison, wenn der Abstieg, die
Meisterschaft und Teilnahme an lukrativen Europacup-Wettbewerben -- und
neue Verträge -- auf dem Spiel stehen. Dabei treten die Verlierer eher
zu als die Sieger.
"Bevor ich dem Gegner erlaube, ein Tor zu schießen", wies Breitner
den Nachwuchs in die Grundsituation ein, "muß ich ihn mit allen Mitteln
daran hindern", falls es fair nicht möglich sei "eben mit einem Foul".
Lieber Freistoß als Gegentor. "Wer das nicht offen zugibt, der lügt sich
was vor -- oder er ist kein Fußballer."
Daraus schloß der Weltmeister, "daß man frühzeitig lernen muß, foul
zu spielen", möglichst ohne zu verletzen. Denn nur, wenn einer das nicht
gelernt habe, "passieren solche Brutalitäten".
Das gilt für alle Kampfspiele. Im Fußball und Handball geschehen
absolut und relativ die meisten Sportverletzungen. Fast gleichzeitig mit
den Horrorszenen in der Bundesliga mußten drei deutsche Wasserballer
beim internationalen Turnier in Pescara mit Kopfwunden aus dem Wasser.
Schwerwiegendere Unfälle bis zu Todesstürzen ereignen sich
vorwiegend in anderen Sportarten: Rennsport und Reiten, Skifahren und
Segelfliegen, Boxen und Bobfahren.
Die größte Gefahr laufen außer Torhütern Spielmacher und
Sturmspitzen. Dem Heimpublikum gelten sie gleichermaßen als
Siegfried-Gestalten im Fußball-Drama. Auf sie setzt der Gegner seine
Sonderbewacher an, gewöhnlich knochenharte Verteidiger.
Als Buhmann pfiffen die Schweizer Zuschauer schon 1954 bei der
Fußball-Weltmeisterschaft den deutschen Rotschopf Werner Liebrich aus,
nachdem er den ungarischen Torjäger Ferenc Puskas verletzt hatte. 1980
mußte Karl-Heinz Flohe, Spielmacher bei München 1860, nach einem
komplizierten Beinbruch seine Karriere beenden, die Nationalstürmer
Klaus Fischer und Bum Kun Tscha aus Korea monatelang aussetzen.
Oft entstehen aus Zweikämpfen giftige Rivalitäten. Nach einem Foul
des Bremers Höttges hatte sein Frankfurter Gegner Horst Heese einst das
Feld verlassen müssen. "Wenn der Höttges nach Frankfurt kommt", schwor
er Rache, "geht seine Laufbahn zu Ende." Tatsächlich setzte Heese den
Bremer außer Gefecht. Bevor es zum Prozeß S.162 kam, brachte der DFB
beide zur Versöhnung zusammen.
Als jüngst Jimmy Hartwig vom HSV und der Kaiserslauterer Hans
Günther Neues wiederholt aneinandergerieten, stellte der Schiedsrichter
schließlich Neues vom Platz. Es war Neues' dritte Disqualifikation. Nach
seinem Tritt gab er zu: "Es stimmt, daß ich ihn treffen wollte." Der
Fall gehört fast schon in die Kategorie der Revanche-Fouls.
Dabei treten Spieler, denen ein Gegner Schmerz zugefügt hat,
instinktiv, reflexhaft zurück. Der Schiedsrichter bestraft in der Regel
das zweite Foul. So war es auch 1958 bei der Weltmeisterschaft dem
deutschen Verteidiger Erich ("Hammer") Juskowiak ergangen. Er hatte nach
einem Tritt zurückgetreten und flog vom Platz. Zehn Deutsche verpaßten
das Endspiel.
Nach der Politikerregel, unpopuläre Entscheidungen möglichst rasch
nach der Wahl zu treffen, versuchen Verteidiger gewöhnlich, den Gegner
schon bei der ersten Begegnung zu schockieren. Noch harmlos stellte sich
ein Berliner seinem Gegner vor: "Ich heiße Finken, und du wirst bald
hinken." Aber schon nach zwölf Spielminuten hatte der Leverkusener
Jürgen Gelsdorf den Frankfurter Bum Kun Tscha 1980 kampfunfähig
gerempelt.
Der Koreaner erlitt einen Abriß des zweiten Lendenwirbels. Fans
drohten Gelsdorf mit Mord. Die Polizei stellte ihm und seiner Mannschaft
zeitweise eine Leibwache.
"Unsere guten Stürmer werden gejagt", warnte Bundestrainer Jupp
Derwall. "Wir müssen aufpassen, daß uns einige Treter diese Bundesliga
nicht kaputtmachen." Darüber entscheiden vor allem die Schiedsrichter.
Ihr Hauptkriterium für fair oder regelwidrig ist, ob der Kicker versucht
hat, den Ball zu spielen.
Der verletzte Lienen verlangte aus dem Krankenhaus, windige
Entschuldigungen nicht mehr gelten zu lassen: "Heute werden Angriffe
toleriert, wo der Verteidiger nicht einmal zu zehn Prozent die Chance
hatte, an den Ball zu kommen." Wer dennoch Knochen und Gelenke des
Gegners gefährdet, muß sich gefallen lassen, Klopper und Treter genannt
zu werden. Die Zuschauer gröhlen dann "Mörder".
Siegmann gehört zu der Gruppe von Ersatzspielern, die sich durch
besonderen Einsatz einen Stammplatz versprechen. Lienen behauptete von
ihm, er habe im letzten Jahr 13 gelbe Karten gesehen, einer seiner
Gegenspieler habe eine Gehirnerschütterung, ein anderer eine Rißwunde
davongetragen. Siegmann räumte ein, er habe "seit zehn Jahren so
gespielt" und könne "eben nicht spielen wie Beckenbauer".
Niederlagen gefährden aber auch die Trainer. Deshalb stacheln sie
ihre Spieler mehr oder weniger deutlich zu äußerstem Einsatz auf.
Mancher Bundesligatrainer wie Heese oder Klimaschefski ist als
"knüppelharter Mann", wie Fans loben, bekannt geworden.
Gyula Lorant empfahl seinen Verteidigern: "Dein Gegenspieler kann
keine Härte vertragen." Udo Lattek verlangte: "Pack deinen Mann
endlich." Erich Ribbeck gab Spielern schon mal mit: "Geh ordentlich zur
Sache."
Auch Werder-Trainer Otto Rehhagel soll vor dem Foul an Lienen seinem
Abwehrspieler Siegmann sinngemäß zugerufen haben: "Beim nächstenmal
packst du ihn richtig!" Rehhagel hatte 200 Bundesligaspiele bestritten
und sich dabei nach eigener Aussage "durch erlaubte Härte ein Image der
Angst aufgebaut", so daß "die Gegner mich fürchteten". Seine
Spielerkarriere beendete eine Verletzung.
"Tritt dem Holz doch in die Knochen", hatte er 1975 im Lokalderby
seiner Offenbacher Kickers gegen die Frankfurter Eintracht den
Abwehrspieler Amand Theis gegen Weltmeister Hölzenbein aufgefordert. Der
DFB verdonnerte Rehhagel zu vier Wochen Sperre und 3000 Mark
Geldstrafe.
Die Schiedsrichter helfen potentiellen Opfern nur ausnahmsweise. Oft
befindet sich der Tatort hinter ihrem Rücken, wie 1979 beim Tritt des
Schalkers Manfred Drexler auf den liegenden Bayern-Spieler Wolfgang
Kraus. Die Szene geriet zufällig ins TV-Bild. So traf Drexler eine
Sperre.
Siegmann erhielt für sein Foul an Lienen nur Gelb. Für das Foul des
Duisburgers Paul Steiner, das die Karriere des Nationalspielers Heinz
Flohe beendete, gab es nicht einmal die gelbe Karte. Breitner schlug
deshalb vor, wie in Spanien Täter so lange zu sperren, bis ihre Opfer
wieder spielen können.
"Da greifen die Schiedsrichter fast nie ein", klagte Bum Kun Tscha
über die Großzügigkeit bei hinterhältigen Tritten. Am Horror-Wochenende
der Bundesliga zeigten die Männer im Trauerschwarz dagegen auch Gelb,
weil ein Spieler nach einer Verletzung unangemeldet wieder das Feld
betreten hatte. Den Offenbacher Günther Franusch schickten sie in die
Kabine, weil er wiederholt "Handspiel" gerufen hatte. Unempfindlich wie
Schlachter sehen viele brutalen Fouls zu, mimosenhaft ziehen sie Rot,
wenn ein Spieler sie mal im Kicker-Jargon anruft.
"Die Gäste werden in der Regel viel härter angepackt", stellte
Braunschweigs Trainer Uli Maslo fest. "Kicker"-Leser Wolfgang Dolch hat
nachgezählt, daß die Schiedsrichter in der vorletzten Saison 196 von 298
gelben Karten und 31 von 38 Elfmetern den Auswärts-Mannschaften
zudiktiert hatten.
Von den ordentlichen Gerichten dürfen Verletzungsopfer ebenfalls
keine Hilfe erwarten. Denn bei einer Schadenersatzklage muß -- so der
BGH 1974 -- dem Gegner die Regelwidrigkeit nachgewiesen werden. "Das
besagt jedoch nicht, daß in allen Fällen regelwidriger Handlungen ein
Schadenersatz fällig wird" (VI ZR 100/73).
Kein Vorschlag zur Abhilfe überzeugt so recht. Der
Schiedsrichterobmann Johannes Malka etwa empfahl, jede sogenannte
Notbremse, das Foul, mit dem ein enteilter Stürmer unfair am Torschuß
gehindert wird, durch Platzverweis zu bestrafen. HSV-Trainer Ernst
Happel riet, es genüge doch, "wenn ich ihn am Leibchen festhalte oder
die Hose runterzieh'", denn das tut "niemandem weh".
DFB-Präsident Hermann Neuberger verlangte: "Wir müssen von unseren
Schiedsrichtern und von der Sportjustiz S.163 her hart auftreten." Als
die ersten Untaten der Saison zur Verhandlung anstanden, proklamierte
DFB-Ankläger Hans Kindermann: "Wir müssen Marken setzen" gegen die
"Fouls, Roheiten, Holzereien und Brutalitäten in den Bundesligen."
Doch die DFB-Richter sperrten nur Jürgen Zimmer aus Wattenscheid
wegen Tätlichkeit für neun Spieltage. Zwei andere Spieler kamen mit zwei
und drei Wochen davon, weit weniger, als Kindermann gefordert hatte.
"Soll doch der deutsche Fußball verrecken", ärgerte er sich.